Chaosforschung
Geschrieben am 01.11.2022 von Lukas Schimnatkowski
Was hat Schach mit Chaos zu tun? Nach meiner letzten Erfahrung als Mannschaftsführer im Breitensport eine ganze Menge, denn dort wurde ich unfreiwillig selbst zum sogenannten Chaosforscher. Der Mannschaftskampf gegen Werdens achte Mannschaft war von einer ständigen Ungewissheit getragen, was die Ergebnisse anbelangt. Auf der Suche nach einer passenden Überschrift für diesen Artikel fiel ich dann über den Begriff Chaosforschung, der unter anderem in einigen Quellen so definiert wird: "Im Wesentlichen beschäftigt sie [die Chaosforschung] sich mit Ordnungen in speziellen dynamischen Systemen, deren zeitliche Entwicklung unvorhersagbar erscheint, obwohl die zugrundeliegenden Gleichungen eigentlich deterministisch sind." Diese Erläuterung beschreibt die Situation am vergangenen Sonntag erstaunlich treffend. Wer diese kryptische Beschreibung im Moment nicht mit Schach in Verbindung bringen kann, den möchte ich auf die kommenden "Fallbeispiele" verweisen.
Unsere Mannschaft setzte sich nach einigen Startschwierigkeiten in der Organisation dann am Ende doch solide aus Simon Springmann, Dzemal Aker, Leonas Humkamp und Maksim Beliaev zusammen. An allen vier Brettern gelang es mir jedoch nicht, auch nur eine halbwegs treffsichere Prognose zum jeweiligen Ausgang der Partie zu treffen. Einfach ein reines Ergebnis-Chaos!
Zunächst sah eigentlich alles ganz harmlos aus. Leo hatte bereits nach der Eröffnung zwei Bauern erobert, Maksim hingegen "nur einen", Dzemal dafür einen ganzen Läufer. Gedanklich hatte ich schon in diesen drei Partien mindestens 2,5 Punkte verortet, sodass Simons eher unklare Stellung gar nicht so sehr in Gewicht fallen dürfte. Ich schoss einige Fotos, um mir die Wartezeit etwas zu vertreiben. Geboten wurde an diesem Sonntag dank dreier Heimspiele (U20-1, SFK6, SFK9) immerhin einiges. Als ich das nächste mal noch immer gutgläubig auf die Bretter schaute, hatten sich drei der vier Partien komplett gedreht. Simon hatte es fertiggebracht, einen Läufer leider kompensationslos zu verlieren. Wie sich in der Analyse später herausstellte, hätte er zur Überraschung aller Beteiligten im entscheidenden Moment statt des Figurenverlustes einen mutmaßlichen Damengewinn vorbereiten können. Hier äußert sich zum ersten Mal das dynamische System aus dem obigen Satz.
Mit dem Determinismus, also der Vorherbestimmtheit, schien sich hingegen Leo auseinanderzusetzen. Er hatte dank ausgezeichneter Partieführung ersatzlos einen Turm erobert und befand sich bereits im Endspiel. Hier machte ich mir gar keine Sorgen mehr. Maksim versuchte derweil die Ordnung in seine Stellung zurückzubringen, indem er seine verbleibenden Figuren ins Spiel schickte. Leider entschied er sich für die kurze Rochade, als Schwarz bereits die g-Linie geöffnet hatte. Daher befürchtete ich hier wenig später bereits das sich entwickelnde Chaos. Allein bei Dzemal schien sich wenig zu ändern, er besaß immer noch seine Mehrfigur.
Ich stand mit einigen anderen Schachfeunden bei bestem Herbstwetter draußen, als Leo sichtlich enttäuscht zu mir kam. Ich konnte es kaum glauben, aber er hatte seine Partie verloren. Aus purer Freundlichkeit hatte er es seinem Gegner laut eigener Aussage wiederholt gestattet, die Regel Berührt-Geführt nicht allzu wörtlich zu nehmen ("Ich finde diese Regel einfach doof."). Ausgerechnet als Leo selbst in einer Situation zu voreilig seinen Turm berührte, wurde die Regel dann allerdings doch für gut befunden und Leo musste seinen Turm ziehen, was dem Gegner eine Bauernumwandlung ermöglichte, 0-1. Eine ganz bittere Niederlage, die Leo meines Erachtens trotz aller Umstände mit Fassung getragen hat.
Wenig später verließ Dzemal ebenfalls den Spielsaal. Er hingegen sah überhaupt nicht traurig aus, ich war mir sicher, dass er gewonnen hatte. Doch es folgte ein Ergebnis, dass ich am allerwenigsten erwartet hatte: Remis?! Tatsächlich hatte er trotz Mehrfigur keinen Weg finden können, in spielentscheidenden Vorteil zu kommen und stattdessen waren mittlerweile drei seiner Bauern dem Chaos zum Opfer gefallen. Als ich die Endstellung in der Analyse sah, konnte ich seine Entscheidung zur dreimaligen Stellungswiederholung (!) ein Stück weit nachvollziehen, 0,5-1,5.
Nach diesen Geschehnissen musste ich mich endlich mal wieder selbst von den momentanen Stellungen an den beiden verbleibenden Brettern überzeugen. Der geneigte Leser wird erahnen: Wieder stand alles Kopf! Simon hatte es für mich völlig unverständlich plötzlich in ein gewonnenes Bauernendspiel geschafft, während bei Maksim mittlerweile das ganze Brett im Chaos versank: Beide Könige wurden von jeweils drei gegnerischen Schwerfiguren attackiert, plus ein einzugsbereiter Freibauer für Maksim auf der siebten Reihe?!
Nachdem Simon sein Bauernendspiel gewonnen hatte, ließ mich die gemeinsame Analyse mit Maksim nach seiner Partie weiter erstaunen. In angriffslustiger Manier hatte er immer versucht, den gegnerischen König zu bedrohen, doch der Gegner hielt stets gut mit. Die Partie kippte von Zug zu Zug, es wurde immer spannender, bis der schwarze König letztendlich ein sicheres Plätzchen auf g6 fand (er war immerhin von c8 aus losgelaufen!). Das nun drohende Matt konnte Maksim nicht mehr verteidigen, 1,5-2,5. Für alle, die pure Spannung mögen, ist Maksims Partie unten zum Nachspielen angehangen.
Was für ein nervenaufreibender Mannschaftskampf! Als nun etablierter Chaosforscher lautet mein Fazit also nun: Man weiß (zumindest im Breitensport) wirklich erst, wie eine Schachpartie ausgeht, wenn das Ergebnis feststeht.