Katernberger Schachgeschichte[n]: Das 100-Partien-Match

Geschrieben am 03.10.2017 von Bruno Müller-Clostermann

Eine Schachuhr fährt Taxi nach Wattenscheid

Wir nehmen die Ankündigung des 11. Willi-Knebel-Gedenkturniers (7.-21.3.2018) zum Anlass, um einen Schwank aus dem Leben des Namensgebers unseres Traditionsturniers zum Besten zu geben. Der Erzähler ist unser Schachfreund Norbert Otto (geb. 1954 in Essen), der  im Jahr 1970 in jugendlichem Alter zu den Katernberger Schachspielern stieß, um dort „goldene Jahre“ zu erleben, die in seinem biographischen Buch „Kaddernberch – Eine Kindheit und Jugend im Ruhrpott 1954-1974“ beschrieben sind.

Wir haben aus seinen Erinnerungen eine besonders kuriose Episode ausgewählt, die in den frühen 1970-er Jahren gespielt haben dürfte. In den Hauptrollen: Der vor 10 Jahren allzu früh verstorbene Willi Knebel, der Erzähler selbst und last not least Werner Nautsch als rettender Engel.

Willi Knebel (im Bild rechts 1971 als junger Mann), der sich gerne "Wirbelwilli" nannte, weil er wie ein Wirbelwind Schach spielte (oder zu spielen meinte), "lebte Schach". Er war ehrgeizig, jugendlich frisch und ein echter Freund.

Er hielt mich für einen öden Defensivspieler (rechts im Bild der Erzähler Norbert Otto, 1974) und wollte mir in den ernsthaften Turnierpartien, die wir gegeneinander spielten, immer zeigen, wie seine Wirbeloffensive mich zermalmt. Doch zumeist machte er einen kleinen Fehler und so verlor er die meisten Partien gegen mich. Wirbelwilli war ein starker Spieler, später erreichte er im Fernschach sogar den Titel "Internationaler Meister".

Warum ich sagte, dass Willi Knebel (Ole und ich nannten ihn gerne auch "Knilli Webel") Schach lebte, soll folgende bemerkenswerte Episode zeigen, die selbst unter hartgesottenen Schachspielern Erstaunen (wenn nicht gar mehr) hervorrief: Willi und ich (ich "lebte" nämlich auch Schach!) spielten ab und zu, so etwa zweimal im Jahr, ein 100-Partien-Match. 100 Blitzpartien nonstop! Begonnen wurde abends um 18 Uhr. Das Ganze dauerte so etwa 12 Stunden. Man musste also Samstags spielen, denn die Nacht musste man durchhalten. Den Sonntag hatte man dann zum Ausschlafen.

Das dritte Hundertermatch zwischen Willi und mir fand in Wattenscheid in Willis Wohnung in der Graf-Adolf-Straße statt. Etwa um drei Uhr nachts, es stand 42:34 für mich, gab die Schachuhr ihren Geist auf. Katastrophe! Eine Zweituhr war nicht im Haus. Wer rechnet denn mit so was? Ich sagte: "Willi, ist o.k. Dann brechen wir hier ab."

Willi, obwohl 8 Punkte im Rückstand, hatte den Eindruck, dass meine Kondition im Keller sei und er das Match noch würde drehen können. Also: was machte Willi? Er griff zum Telefon, klingelte Werner Nautsch (rechts im Bild), der unweit der Essener City wohnte, aus dem Bett und fragte ihn, ob er eine Schachuhr im Haus habe. Nautsch bejahte verschlafen knurrend und Willi bat ihn dringend, die Schachuhr raus zu suchen, ein Taxi zu rufen und die Uhr nach Wattenscheid chauffieren zu lassen.

Etwa 45 Minuten später klingelte es an der Haustür, ein etwas verstört blickender Essener Taxifahrer holte vom Rücksitz die Schachuhr, drückte sie Willi in die Hand, kassierte 25 DM und verschwand im Dunkel.

Aber: Unser Match ging weiter! Das war die Hauptsache. Ich gewann 59:41 und fuhr im Morgengrauen mit einer der ersten Straßenbahnen Richtung Essen-Katernberg, um mich zuhause erst einmal aufs Ohr zu legen …

Nachtrag: Die abgebildete Schachuhr ist leider nicht die damals per Taxi nach Wattenscheid transportierte Originaluhr, sondern ein aus dem Katernberger Fundus ausgemustertes Exemplar, aber immerhin mit zünftigem „Katernberg“-Schild.

 

Quelle

  • "Kaddernberch - Eine Kindheit und Jugend im Ruhrpott 1954-1974" von Norbert Otto (als e-book erschienen bei AMAZON, 2014)

Fotos

  • Willi Knebel und Werner Nautsch: Ausschnitte aus einem Gruppenfoto 1971

  • Norbert Otto: 1974 fotografiert von Norbert Knebel, dem Bruder von Willi Knebel

 

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