Nachrodt-Wiblingwerde, wir kommen!
Geschrieben am 05.05.2019 von Bernd Rosen
Die U14 qualifiziert sich für die NRW-Meisterschaft
Nachrodt-Wie bitte? Zugegeben, ich hatte bis vor einigen Jahren auch noch nie von diesem Ort gehört, geschweige denn mir vorstellen können, dass es zu einem bevorzugten Reiseziel des Schachnachwuchses in Nordrhein-Westfalen avancieren könnte. Doch seitdem die Schachjugend NRW die Jugendbildungsstätte Auf dem Ahorn für ihre Mannschaftsmeisterschaften entdeckt hat und diese regelmäßig dort austrägt, hat Nachrodt-Wiblingwerde eine geradezu magische Anziehungskraft in den jugendlichen Schachkreisen unseres Bundeslandes entwickelt. Wir konnten uns dort zuletzt vor zwei Jahren für die DVM qualifizieren, und schon 2009 schafften wir an gleicher Stelle erstmals den Sprung zur "Deutschen" - damals mit der U12.
Vor der NRW-Endrunde gilt es, beim Qualifikationsturnier einen der ersten 6 Plätze zu erreichen. Leider mussten wir hier auf Lukas verzichten, der bei der Ruhrgebietsmeisterschaft neben Nils mit perfekten 4:0 Punkten geglänzt hatte. Für ihn rückten mit Daniel und Sam zwei weitere U12-Spieler in die Mannschaft, so dass wir uns im Vorfeld dazu entschlossen hatten, auf den Start bei der U12 zu verzichten.
Als langgedienter Schachspieler und -trainer weiß ich, dass Schach kein Sport für Leute ist, die über ein schwaches Nervenkostüm verfügen. Die Aufregungen dieses Tages begannen schon während der Anreise, die mich in das malerische, ländliche Dörfchen Asseln führte, das politisch seit 1928 zur Großstadt Dortmund gehört, wovon geografisch jedoch nichts zu spüren ist: Der Ort (...) ist verhältnismäßig ländlich geprägt. Die Felder südlich und nordöstlich des Ortsrandes stellen zwei der letzten größeren Naturflächen des Stadtbezirks Brackel dar. Asseln beheimatet noch immer mehrere Vieh- und Landwirtschaftsbetriebe. weiß Wikipedia, und in diesem Fall kann ich den Wahrheitsgehalt dieser oft unzuverlässigen Quelle aus eigener Anschauung bestätigen. Deutlich ältere Rechte an Asseln besitzt jedoch Werden, wie ich ebenfalls besagtem Wikipedia-Artikel entnehme: Erstmals urkundlich erwähnt wurde Asseln um das Jahr 880 in einem Urbar des Klosters Werden (...). Aus der Urkunde wissen wir einiges über den ersten namentlich bekannten Asselner: Er hieß Alfdag, wirtschaftete auf einer halben Hufe, die im Eigentum des Klosters Werden an der Ruhr stand. Diese Angaben kann ich übrigens trotz meines fortgeschrittenen Alters nicht aus eigener Anschauung bestätigen...
Aufregend an der Anreise waren jedoch weder die für mich Großstadtplanze ungewohnt ländliche Umgebung noch die wechselhafte Vergangenheit dieses geschichtsträchtigen Ortes, sondern die Straßenbahn, die mir dort plötzlich auf der rechten Fahrspur entgegen kam, während ich darauf konzentriert war, die Linksabbiegung zum Immanuel-Kant-Gymnasium nicht zu verpassen. Es gelang mir reaktionsschnell, dem Zusammenstoß auszuweichen, obwohl mich noch nicht einmal der WDR-Verkehrsfunk vor diesem Geisterfahrer gewarnt hatte. Bernd Zamhöfer, der direkt hinter mir fuhr, war genauso überrascht von dem plötzlichen Verkehrshindernis.
Wie dem auch sei - alle Teammitglieder trafen rechtzeitig und unversehrt im Spiellokal ein, wo wir lesen konnten, dass wir in der Startrangliste auf Platz 4 geführt wurden. Das behagte mir gar nicht, denn in den letzten Jahren waren wir mit der Favoritenrolle gar nicht gut klar gekommen, und bei näherem Hinsehen konnte man leicht sehen, dass auch die hinter uns gelisteten Mannschaften vorne ganz ordentlich und am letzten Brett deutlich stärker besetzt waren als wir. Es würde also entscheidend darauf ankommen, wie sich Daniel und Sam dort gegen die zumeist deutlich stärkere Konkurrenz behaupten würden. Schauen wir uns das Geschehen Runde für Ruunde an:
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Runde 1: Der Auftakt gegen Ausrichter Dortmund Brackel geht gründlich daneben: Luca nimmt in der Eröffnung lieber einen Bauern mit, anstatt mit einem einfachen Doppelangriff einen ganzen Läufer zu gewinnen. Später schlägt er dann mit der Dame einen zweiten Bauern auf a2 und wird postwendend auf der Grundreihe Matt gesetzt. Daniel erfreut sich seines Raumvorteils mit dem schönen Zentrum d4 und e4 solange, bis der d4 verloren geht, wenig später berührt er schon mal den h-Bauern, um sich anschließend in die Stellung zu vertiefen und festzustellen, dass die schwarze Dame f6 gerade seinen ungedeckten Turm auf a1 bedroht hat. Er wartet erst mal fünf Minuten ab und versucht es dann mit einem Turmzug, aber der Gegner hat natürlich nicht vergessen, dass er den Bauern schon berührt hat, und besteht auf Einhalten der Regeln. Ohne weitere Diskussion fügt sich Daniel in das unvermeidliche Schicksal und muss wenig später natürlich aufgeben. Nils, der bei der NRW-U12 noch so stark gespielt hatte, gewinnt zwei Bauern, verliert dann im Endspiel aber einen Turm durch eine Läufergabel. Beim Stand von 0:3 erkämpft Jonas den Ehrenpunkt in einem Endspiel mit Mehrqualität, in dem sein Gegner dank einiger Mehrbauern lange die deutlich bessere und dann noch länger eine eigentlich unverlierbare Stellung besessen hatte. Der Modus (15 Minuten Grundbedenkzeit plus 5 Sekunden je Zug) ermöglicht jedoch, auch lange Partien sportlich sauber zu Ende zu spielen.
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Runde 2: Gegen Elberfeld gelingt ein klarer 3:1 Sieg: Neben Jonas und Luca gewinnt auch Samuel, dessen Gegner die Möglichkeiten zum Glück nicht nutzt, die ihm Sam unfreiwillig einräumt, als er seinen Mehrbauern vewerten möchte. Statt dessen gelingt ihm weiterer Materialgewinn - ein klassischer Beraubungssieg also. Nils hat erneut eine haushoch überlegene Stellung zu einem komplizierten Turmendspiel verdaddelt, in dem er schon wieder seinen Turm verliert - diesmal durch eine Bauerngabel.
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Runde 3: Paderborn ist eine Hochburg des Jugendschachs und startet auch hier mit einer starken Mannschaft, die in der Startrangkiste einen Platz vor uns rangiert. Obwohl Sam gerade gewonnen hat, schlägt er selbst vor, dass Daniel wieder zum Zuge kommt, weil er selbst gemerkt hat, dass seine Spielweise nicht gerade souverän gewesen war. Für das schnelle 1:0 sorgt Jonas, dem ein mutiges Figurenopfer eine Dame auf g6 und einen Springer auf e6 beschert hat. Anstatt den Gaul auf e6 sofort abzutauschen, wonach fraglich ist, ob Weiß mehr hat als Dauerschach, bringt Schwarz seine ebenfalls angegriffene Dame in Sicherheit und wird durch Dxg7 Matt überrascht. Fast ebenso schnell gerät Nils auf die Verliererstraße, der mit der weißen Reti-Eröffnung überhaupt nicht zurecht gekommen ist und die "Bernd - Rosen - Regel" noch nicht so ganz verinnerlicht hat, derzufolge das Feld d7 für den Damenläufer meist noch schlechter ist als c8. Diesmal jedenfalls bewahrheitet sich diese Regel, da der Gegner seine beiden Läufer auf d6 und d7 aufspießt und Nils nicht beide retten kann. Beim Stand von 1:1 dann große Aufregung: Daniel hat zwar eine Qualität verloren, dafür aber einen Bauern erbeutet. Geschickt hat er Dame und Läufer gegen den schwarzen König in Stellung gebracht und könnte jetzt scheinbar undeckbar Matt drohen. Vermutlich veranlasst diese Entdeckung seinen Gegner dazu, ihm ein Remisangebit zu unterbreiten. Daniel schaut mich fragend an: "Annehmen!" lautet meine Weisung. Davon will nun plötzlich sein Gegner nchts mehr wissen, der erst mal seinen Mannschaftsführer fragen will. Laszlo Nagy, der wie so viele Trainer in NRW in grauer Vorzeit seinen Trainerschein unter meiner Leitung erworben hat, schaut mich fragend an und erklärt seinem Spieler bedauernd, dass er natürlich an sein Remisangebot gebunden ist und er besser vorher gefragt hätte. Inzwischen hatten alle Beteiligten gesehen, dass die scheinbar tödliche weiße Mattbatterie Le3 plus Db6 durch die einfache Zugfolge ...Dd1+ Kh2 Dd6+ nebst Damentausch halbiert und soit unschädlich gemacht werden kann. Das anschließende Endspiel wäre allerdings nicht trivial gewesen, weil der freie weiße h-Bauer im Verein mit dem schwarzfeldrigen Läufer den Schwarzen zu großer Sorgfalt gezwungen hätte. Aber dieses Schauspiel gelangt nach dem Remisschluss nicht mehr zur Aufführung. Wenig später willigt Luca bei beiderseits knappster Zeit in ausgeglichener Stellung ins Remis ein - 2:2 gegen einen wirklich starken Gegner, der am Ende mit nur zwei Minuspunkten das Turnier gewinnen wird.
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Runde 4: Mit dem SK Werther wieder ein vermeintlich leichter Gegner. Jonas, mit drei aus drei im Rücken, wird leichtsinnig und stellt seinen Springer nach h5, um anschließend überrascht festzustellen, dass der dort vom weißen Le2 geschlagen werden kann. Nach gxh5 Dxh5 ist ein Bauer futsch und die Königsstellung ramponiert - aber mit der Kraft der 3 Punkte steckt man auch so einen Rückschlag weg. In der Folge holt sich Jonas erst den fehlenden Bauern zurück und kommt im Schwerfigurenendspiel über die offene g-Linie auch noch zum Angriff. Er gibt auf g2 zwei Türme für die weiße Dame und gewinnt im Anschluss in der offenen Stellung mit seiner Dame leicht. Die übrigen Partien laufen aus unserer Sicht ebenfalls glatt, nur Luca muss sich mit Remis begügen.
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Runde 5: Der Kampf gegen Ennepe Süd verläuft wieder sehr spannend: Jonas wird schon im frühen Mittelspiel vom starken Aik Arakelian glatt überspielt, nutzt dann auch seine taktischen Möglichkeiten nicht optimal und verliert klar. Nils hat in der Eröffnung eine Figur gewonnen, steht mit Dd8 und Ke8 auf den offenen Linien aber mächtig unter Druck. Mit umsichtigem Spiel gelingt es ihm sich zu befreien und siegt am Ende im Gegenangriff. Daniel hat eine scharfe Stellung mit entgegengesetzten Rochaden. Auf der Jagd nach Materialgewinn lässt sein Gegner zunächst den Einschlag Lg7xb2+ zu und tauscht wenig später seinen Lg5 auf e7. Zwar kommt sein Springer danach zur Gabel gegen De7 und Tb8, aber nach Lh6+ f4 Df6 Sxb8 gewinnt Lxf4+ die Dame, und auch anschließend lässt Daniel nichts mehr anbrennen - 2:1! "Weiß Luca, dass es 2:1 steht?" fragt mich Karl-Heinz Hüttemann, der wie so oft auch diesmal als "Sekundant" von Enkel Nils dabei ist. "Im Bauernendspiel mit Minusbauer braucht man Luca wohl nicht mehr zu sagen, dass er sich mit Remis zufrieden geben kann!" lautet meine Antwort. Im Anschluss können wir beide Lucas Meisterstück bewundern: Geschickt verleitet er den weißen König dazu, in seine Stellung einzudringen, um den Gegner plötzlich mit einem lehrbuchmäßigen Bauerndurchbruch kalt zu erwischen. Plötzlich hat er den schnelleren Freibauern und gewinnt die ursprünglich wohl verlorene Partie noch. Endstand also 3:1 für Katernberg, und erstmals stehen wir wieder auf der Sonnenseite der Tabelle. Aber leider kommen ja noch zwei Runden...
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Runde 6: Viele Punkte zu sammeln beschert einem beim Schweizer System starke Gegener. Und wenn man im Jugendschach in NRW zu viele Punkte hat, dann muss man gegen Porz spielen. Die sind diesmal etwas angefressen, weil sie soeben gegen Paderborn einen klar gewonnenen Kampf noch verloren haben, nachdem ein Spieler in Gewinnstellung die Zeit vergessen hat. Leider können wir das Momentum nicht nutzen: Jonas lässt seinen Punkt f7 unbewacht und wird durch den Einschlag Lxf7 postwendend bestraft. Samuel, der diesmal wieder den Platz von Daniel eingenommen hat ("Gegen Porz ist es sowieso egal, wer von uns am letzten Brett spielt"), kriegt seinen Damenflügel nicht entwickelt und geht chancenlos unter. Dafür spielt Luca erneut eine sehr starke Partie und gewinnt mit einem starken Freibauern auf d6 sicher. Die Schlüsselpartie spielt Nils, dem es gelingt, mit g2-g4 die schwarzen Figuren auf f5 und h5 aufzuspießen. Nach dem Konter ...h6 gegen seinen Sg5 und der Schlagfolge g4xf5 h6xg5 f5xg6 stehen beide Könige schlecht. Nils spielt danach aber zu passiv und wird folgerichtig mattgesetzt. Also 1:3, wir sind aus den Qualifikationsrängen wieder herausgefallen - aber zum Glück kommt ja noch eine Runde!
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Runde 7: Die dritte starke Mannschaft (Münster) bleibt uns zwar erspart, aber Bochum mit den beiden starken Spitzenbrettern Vincent Klugstedt und Christian Gluma ist auch nicht von Pappe. Als Erster gewinnt Daniel, dem Samuel noch einmal den Vortritt gelassen hat, seine Parrtie sehr sicher. Nils steht lange ausgeglichen und hat plötzlich einen Turm mehr - 2:0. Jonas spielt gegen Vincent Klugstedt eine starke Partie: Im Maroczy - Aufbau des Sizilianers steht er als Schwarzer lange sehr gedrückt, nach etlichen Abtäuschen wird aber die Schwäche der schwarzen Felder immer deutlicher spürbar, die er schließlich auch zum Mattangriff nutzt. Der weiße König wird in die schwarze Bretthälfte getrieben und dort waidgerecht erlegt. Beim Stande von 3:0 tut uns dann die Niederlage von Luca nicht mehr weh, der ein minimal schlechteres Endspiel gegen den stark spielenden Christian Gluma nicht halten kann.
Danach müssen wir noch etwas warten, bis der Turnierleiter die Abschlusstabelle aufhängt: Mit dem vierten Platz haben wir genau den Setzlistenplatz erreicht und sind nach einem Jahr Pause wieder in Nachrodt-Wiblingwerde dabei. Eine tolle Leistung des gesamten Teams, das nach dem Fehlstart super gekämpft hat. Daniel und Samuel haben mir die schwierige Entscheidung am Ende sogar abgenommen, wer von ihnen spielen soll, und das Ergebnis hat ihnen Recht gegeben: Samuel mit 1:1 und Daniel mit 3,5:1,5 Punkten tragen wesentlich zum Teamergebnis bei. Nils kämpft sich nach 0:3 Punkten noch ins Turnier zurück und holt in der zweiten Hälfte 3:1 Punkte. Luca (4:3) zeigt vor allem gegen Porz und Ennepe seine Klasse, und Jonas (5:2) ist ein echtes Spitzenbrett, der seine taktischen Stärken gut zur Geltung bringt. Wir dürfen gespannt sein, wie sich die Mannschaft bei der NRW-Meisterschaft schlagen wird, wo die Trauben diesmal jedoch etwas höher hängen als in der Verganheit, da NRW nur noch drei Startplätze bei der Deutschen Meisterschaft hat - bisher waren es immer vier.
Aus Essener Sicht ist noch nachzutragen, dass sich die Mädchenauswahl der Schachfreunde Werden in der U14 mit dem 5. Platz ebenfalls für die NRW-Endrunde qualifizieren konnte und dabei eine nominell deutlich stärkere Mannschaft auf den undankbaren 7. Platz verweisen konnte. Die Werdener U12 startete als vorletzte der Setzliste und erreichte einen sehr guten 12. Platz (bei 18 Teilnehmern), und die U20w ist als NRW-Meister sogar schon für die DVM in Braunschweig qualifiziert, weil kein anderer Verein in NRW ene Mannschaft für den Wettbewerb gemeldet hat. Schön für Werden, aber ein Armutszeugnis für das Mädchenschach in NRW!
Denke ich an den Anfang meines Berichtes zurück, wird mir sofort klar, warum Werden in Dortmund-Asseln so erfolgreich war: Natürlich machen sich die alten Eigentumsrechte noch bemerkbar! Außer den 20 Scheffel Gerste, fünf Scheffel Brauhafer, acht Denare Heerschilling und zwei Scheffel Mehl, die der erste Asselner besagtem Wikipedia-Artikel zufolge als Abgabe an das Kloster Werden zu liefern hatte, wurde in einem geheimen Zusatzabkommen bestimmt auch ein gewisser Prozentsatz an Punkten den Lehnsherren für die nächsten paar Jahrtausende garantiert...!
Die Endstände der U12, U14 und U14w sind bei der Schachjugend NRW zu finden.