Nimm was du kriegen kannst…
Geschrieben am 16.06.2019 von Lukas Schimnatkowski
Die alljährlichen deutschen Jugendeinzelmeisterschaften in Willingen sind wohl das zentrale Event der deutschen Schachjugend. Selbstverständlich ist Katernberg auch hier wieder dabei!
Dieses Jahr waren Jan, Nikita, Lasse und ich vor Ort, um den einen oder anderen hart erkämpften Punkt einfahren zu können. Diesen harten Kämpfen ist auch die mangelnde Berichterstattung auf Twitter geschuldet. Sorry! Um dieses Versäumnis aufzuarbeiten, dient der folgende Bericht.
Zu Erwähnen bleibt noch, dass die Meisterschaften dieses Jahr unter dem Motto „Piraten“ standen (natürlich vor allem für die jüngeren Teilnehmer) und auch ich mir damit die ein oder andere Analogie zu der „Fluch-der-Karibik-Filmreihe“ nicht verkneifen kann. Als Motivationsmusik ist die klassische Musik der Filmreihe übrigens herausragend geeignet!
Tag 1: Runde 1 & 2
Der Einstieg ins Turnier begann bereits mit einer Doppelrunde. Die Veranstalter wollten die Teilnehmer wohl gleich richtig ins Schwitzen bringen?! Als Vorletzter der Rangliste war es für Lasse von Anfang an besonders schwierig, in dem anspruchsvollen Teilnehmerfeld mithalten zu können. In der ersten Runde musste er in ungewohnten Fahrwasser des Nimzoindisch seine Dame für zwei Springer abgeben, um nicht in das vermeintliche Mattnetz zu tappen. Dann die herbe Enttäuschung aus spielerischer Sicht: Gleich in der zweiten Runde „musste“ Lasse einen spielfreien Punkt einkassieren, sodass seine folgenden Gegner nicht weniger starkes DWZ-Kopfgeld aufweisen würden. Kein leichter Start für eine erste DEM-Teilnahme.
Jan vergab in beiden Runden (gute) Chancen und musste zweimal ins Remis einwilligen. Auch hier also ein Punkt aus zwei Runden.
Nachdem Nikita in der ersten Runde gegen einen nominell schwächeren Gegner das Nachsehen hatte, kam er danach zu einem überraschend einfachen Punkt durch Zeitüberschreitung seiner Gegnerin.
Allein mir gelang der vermeintlich perfekte Start, als ich in beiden ersten Runden durch relativ sauberes Spiel zwei „spannende Punkte“ einfahren konnte.
Tag 2: Runde 3
Aus meinem Elan aus den ersten beiden Siegen wurde in der dritten Runde plötzlich leichtsinniger Übermut, als ich (immerhin schon an Brett 2) Turm und Läufer für einen nicht durchschlagenden Mattangriff opferte. Mein Gegner setzte seinen Kurs unbeeindruckt fort. Kurze Zeit später die erste Niederlage. Und es sollte weiter stromabwärts gehen.
Währenddessen hatte Nikita in seiner italienischen Partie eigentlich alles richtig gemacht; nur noch der Bauer auf e5 gehörte in Ketten gelegt. Stattdessen blieb der Bauer überraschenderweise in Freiheit auf dem Brett und Nikita nahm später Remis an.
Jan spielte erneut Remis. Diesmal konnte er selbst mit einem fliegenden Holländer keinen gefährlichen Königsangriff entwickeln. Das sieht man selten bei Jan!
Lasse hatte bei einer Königswanderung auf den Damenflügel leider einen gegnerischen Bauernhebel übersehen, der durch ein Schachgebot an Stärke gewann.
Tag 3: Runde 4
Der dritte Tag in Willingen sollte für Lasse endlich das erste Erfolgserlebnis bringen. Nachdem er im Franzosen das Läuferpaar und seine Bauernstruktur verloren hatte, wickelte er sehr geschickt in ein ungleichfarbiges Läuferendspiel ab, das auch trotz gegnerischen Säbelrasselns nicht zu gewinnen war. Remis!
Ich selbst ließ mich von Nikita zu dessen geliebten Ponziani überreden und hatte nach wenigen Zügen tatsächlich eine gute Stellung erreicht. Mit diesem ungewohnten Eröffnungsvorteil kam ich nicht klar. Bis ins Endspiel konnte mein Gegner mithalten. Ich hatte mir in dessen Zeitnot einen Bauernhebel überlegt, der sich leider als selbstmörderisch entpuppte. Nach gegnerischem Qualitätsopfer war die Stellung nicht zu halten. Eine weitere schmerzliche Niederlage.
Nikita blieb nach einem äußerst unübersichtlichen Grünfeld-Inder mit Turm + 2 Bauern gegen Springer + 2 Bauern übrig. Ein leichter technischer Sieg.
Jan konnte abermals einen schon aus dem letzten Jahr bekannten Seefahrer mit einer schönen Positionspartie und dessen Mithilfe bezwingen. Der erste Sieg! War seine Remisserie gebrochen?
Tag 4: Runde 5 & 6
Und tatsächlich, Jan konnte auch in Runde 5 wieder gewinnen. Das feste gegnerische Vorhaben, die Abtauschvariante gegen Jan zu verwenden, scheiterte wahrlich kläglich. Jan verhaftete nach und nach immer mehr gegnerische Matrosen, bis der Gegner die Segel strich. In der Nachmittagsrunde versandete der vormittagliche Killerinstinkt dann doch wieder ungewohnt schnell: In kompletter Gewinnstellung vergaß Jan seine zuvor berechneten Gewinnzüge im Eifer der Zeitnot und remisierte in immer noch formidabler Stellung.
Lasse hatte es in der 5. Runde mit dem allseits beliebten Botwinnik-System erst einmal ruhig angehen lassen. Doch seine Gegnerin gewann am Damenflügel mehrere Bauern, sodass man sich um die weiße Stellung sorgen musste. Es gelang Lasse, starkes Gegenspiel am Königsflügel zu erzeugen, worauf bald ein gegnerischer Leichtmatrose über Bord ging. Leider übersah Lasse in Folge einen starken Konter, wobei selbst die obligatorische Mehrfigur nichts mehr ausrichten konnte. In der Nachmittagsrunde wurde er dann nach einem Bauernopfer von seinem Gegner sauber überspielt.
Nikita konnte zunächst in einer recht unspektakulären italienischen Partie gegen einen stärkeren Gegner Remis halten, bevor in der Nachmittagsrunde zwei Figuren für einen Turm abgeben musste und seine Stellung in der Fortsetzung nicht zu halten war.
Ich selbst war inzwischen auf meinem Leistungstief bei diesem Turnier angekommen: Gegen zwei nominell schwächere Piraten konnte ich nur mit Mühe und Not Remis halten, beide Gegner standen deutlich besser bzw. auf Gewinn. Das DWZ-Kopfgeld ist wohl leider manchmal nicht aussagekräftig.
Tag 5: Runde 7
Sollten meine plötzlichen schachlichen Schwierigkeiten wohl mit meiner unkonventionellen Eröffnungswahl zu tun haben? Falls dies der Fall sein sollte, wäre es bestimmt eine gute Idee, völlig neue Eröffnungsgewässer zu erkunden. Was eignet sich da besser als eine langsame italienische Partie?! Ich kann mich nicht erinnern, in meiner schachlichen Laufbahn, die nahezu vollständig von dem gefürchteten Freibeuter Bernd Rosen geprägt wurde, jemals etwas anderes als 2.d4 auf 1.e4 e5 gespielt zu haben. Naja, wie dem auch sei, ein Italiener sollte es werden und urplötzlich entfalteter dieser ungeahnte Kraft in einer taktischen Kombinationsstellung. Für die Partie des Tages hat es leider nicht gereicht, dennoch muss dieser eine Lichtblick hier Erwähnung finden:
Ich hatte bereits einen ganzen Turm geopfert, als folgende Stellung entstand:
Der schwarze Kapitän steht auf g6 so unsicher, dass der folgende Mattangriff durchschlägt: 25.Lf7+ Kg5 26.Lxg7 Lxg7 Schwarz hat keine andere gute Option. 27.Dxg7+ Kf5 Spielt man hier voreilig 28.g4+?, steht der König auf f4 ungewöhnlich sicher (es gibt kein Folgeschach). Stattdessen gewinnt 28.Lg6+!:
Der Partiezug war 28…Kg5, wonach 29.Le4 das gegnerische Schiff versenkt, 1-0 (29…Kf4 30.Dg3# oder 29…Kh4/5 30.Dg4#). Die Schönheit der Stellung liegt natürlich darin, dass Schwarz den Lg6 nicht besonders gut schlagen kann: Auf 28…Dxg6 folgt 29.g4+! Kg5 und 30.h4+ mit Damengewinn und weiterem Mattangriff.
Wenigstens stand ich nun mit einer schönen Kombination und immerhin 4 aus 7 da.
Unterdessen schaffte Jan erneut nicht den gegnerischen K.O. in seiner hervorragenden Stellung. Nach 17-zügiger Vorbereitung entstand eine grauenhafte gegnerische Stellung aus dessen Sweschnikow. Jan konnte zwei Bauern schlagen und entschied sich für denjenigen, nach dem Schwarz weiter Segel setzen konnte. Hätte der andere Bauer die hiesigen Planken verlassen, wäre die Stellung vermutlich haushoch gewonnen gewesen. Es entstand ein wirklich ausgeglichenes Endspiel. Remis! So hatte Jan auch nach der siebten Runde immer noch keine einzige Partie verloren und konnte mit 4,5 Punkten noch auf eine Spitzenplatzierung hoffen.
Nikita kam in Runde 7 leider wieder nicht über ein Remis hinaus, nachdem er in einer scharfen Drachenvariante nichts besseres als Dauerschach hatte. 3,5 Punkte für Nikita.
Blieb noch die Partie von Lasse. Nachdem er gegen den Igelaufbau seiner Gegnerin schon im Vorhinein einige geschickte Pläne entwickelt hatte, fiel die schwarze Stellung allmählich in sich zusammen. Die weißen Schwerfiguren kamen zum Mattangriff in die gegnerische Stellung. Dieser Mattangriff konnte nur durch Abwicklung in ein komplett verlorenes Endspiel abgewehrt werden. Eine sehr saubere Partie von Lasse (2,5 Punkte) und sein erster Sieg in diesem stürmischen A-Open-Ozean.
Tag 6: Runde 8
Lasse begann in der nächsten Runde mit einer hervorragenden Altbenoni-Stellung, in der ein exponierter gegnerischer Läufer eigentlich verloren gehen sollte. Wie durch ein Wunder überlebte dieser bis zum Partieende auf h6, auch weil die restlichen weißen Figuren nach und nach in die mittlerweile schlechte schwarze Stellung strömten. Eine tragische Niederlage für Lasse.
An meinem Brett war ich sehr zufrieden mit meiner Igelstellung: Ich hatte gerade den typischen Zug d5 durchgesetzt und meine Figuren nach vorne geschoben. Meine Gegnerin schien weiter in ihrer Verzweiflung zu versinken und konnte den schwarzen Freibeutern in der entstehende Zeitnot nichts mehr entgegensetzen. In voller Zuversicht gab ich diese Partie in meinen Rechner ein. Dann der Schock: Zweimal hatte meine Gegnerin die Chance, mich mit Opferkombinationen Matt zu setzen, die ich nicht mal durch das Fernrohr gesehen hatte. An einer weiteren Stelle wäre Dauerschach möglich gewesen. Manchmal muss das eigene Spiel für den Gegner halt nur korrekt aussehen.
Jans Remisfluch der DEM sollte sich weiter durchsetzen: Ein weiteres Mal kaperte er die gegnerische Stellung komplett. Bei vollem Brett lautete die Raumaufteilung: 5 Reihen für Jan, 3 Reihen für den Gegner. Doch auch hier ließ Jan Gnade vor Recht ergehen und teilte die Punkte.
Nikita hatte leider auch dieser Runde wieder Schwierigkeiten zu bewältigen: Ihm kamen die nötigen Seekarten mit den Theoriezügen für das seichte Gewässer des Morra-Gambits abhanden und so wurde er seiner Dame für Turm und Läufer beraubt. Der Gegner verwandelte eiskalt.
Tag 7: Runde 9
Eine Schachwoche in Willingen geht doch immer so schnell vorbei. Vor der neunten Runde wird man sich dessen immer schmerzlich bewusst. Trotzdem wird natürlich in der letzten Runde weiter um die Punkte gekämpft (auch wenn der ein oder andere mit einem schnelleren Remis einverstanden ist).
Nikita konnte auch bei intensivstem Angriffswillen nichts gegen die gegnerische Verteidigung unternehmen. Punkteteilung, 4 aus 9.
Lasse hatte leider in der letzten Runde das Nachsehen. Für ihn gab es im A-Open allerdings auch nur stärkere Gegner. 2,5 aus 9.
Ich konnte meine Siegesserie noch einmal fortsetzen und meinen zwischenzeitlichen schachlichen Schwächeanfall wenigstens ein bisschen wettmachen. 6 aus 9.
Die Schlusspartie gehört allerdings Jan: In der letzten Partie improvisierte er etwas Ähnliches wie Wolga-Gambit, nur das als Anziehender und ohne Bauernopfer. Die gegnerischen Befreiungsversuche wehrte er geschickt ab und machte im ungleichfarbigen Läuferendspiel mit Doppelturm in der Zeitnotphase so viel Druck, der die gegnerische Stellung versenkte. Auch 6 aus 9.
Somit kamen unsere Schiffe in diesem Turnier als 15., 16., 55. und 88. durch das ersehnte Ziel.
In dieser letzten Partie hat Jan wieder gezeigt, wie kaltschnäuzig er auf Matt spielen kann. Nebenbei kann man natürlich diverse feindlich Crew-Mitglieder in den Kerker sperren. Deswegen hier mein piratiger Rat für alle, die dazu neigen Gewinnstellungen nicht zu Ende zu führen:
„Nimm was du kriegen kannst, und gib nichts wieder zurück!“