Schwere Kost

Geschrieben am 06.12.2013 von Ulrich Geilmann

Schachbundesliga: Revierderbys gegen Wattenscheid und Mülheim

Als mir letztens die Zugriffszahlen unserer Homepage vorgelegt wurden, bin ich ja fast umgefallen. Die Bundesligaberichte weisen im Durchschnitt offenbar etwas mehr als 2.000 Leser auf. Hätte nicht gedacht, dass mein doch eher trivialer Blick auf die Schachwelt so veritable Kreise zieht. Dafür möchte ich mich zunächst einmal recht herzlich bedanken. Doch genug damit. Sie sind sicher nicht hier, um der Selbstbeweihräucherung eines verhinderten Schachjournalisten zu lauschen. Deshalb gleich in medias res:

Wie üblich traf sich das Team mehrheitlich am Freitagabend zum traditionellen Auftaktessen. Angesichts der sportlichen Bedeutung der anstehenden Wettkämpfe hatten wir mit GM Andrei Volokitin, GM Evgeny Romanov, GM Vladimir Chuchelov, IM Benjamin Bok, GM Sebastian Siebrecht, GM Ilja Zaragatski, IM Robert Ris und IM Christian Scholz eine kampfstarke Truppe aufgestellt. Leider ließen sich Vladimir und Benjamin aufgrund einer Trainingssession ein hervorragendes Mahl bei Spindelmann, unserer Altenessener Homebase, entgehen. Andrei (der erst am späten Abend mit seiner Frau Natalja anreiste) und Christian (der noch in Dortmund bei der Familie weilte) fehlten bedauerlicher Weise ebenso. Dafür hatten wir mit Wim Ris und Heidi Saller wieder einmal hochkarätige Schlachtenbummler an Bord.

Magnus CarlsenAm Rande war natürlich auch das Ergebnis in Chennai ein Gesprächsthema. Gleichwohl fokussierten wir uns mehr auf unsere Gegner, denn mit Wattenscheid und Mülheim-Nord warteten schwierige Aufgaben auf uns. Derbyfieber!

Am nächsten Morgen stießen zunächst Benny und Vladimir nebst Familie zu uns. Vladimir musste mir dann als erstes seine noch fehlende Spielervereinbarung übergeben. Ohne die läuft in der Bundesliga künftig nämlich gar nichts. Und das ist auch richtig so! Betrug am Schachbrett ist kein Kavaliersdelikt!

Um 13.30 Uhr schlug dann die Stunde der Wahrheit. Auf dem Papier lief Wattenscheid mit einem ungefähr gleich starken Team auf. Das versprach, ein interessanter Tag in der Sparkasse zu werden:

SV WattenscheidSF Katernberg
Najer Volokitin
Bartel Romanov
Dragun Chuchelov
Rustemov Bok
Appel Siebrecht
Handke Zaragatski
Hirneise Ris
Thiel Dr. Scholz

Die erste extravagante Entscheidung des Nachmittages fällte GM Rustemov. Er tauschte freiwillig seinen Fianchettoläufer heraus und produzierte damit einen nachhaltigen Doppelbauern in Benjamins Lager. Die leider etwas maue Zuschauerkulisse war sich trotz der Versicherung, dass hinter dieser Variante ein durchdachtes theoretisches Konzept steckt, nicht ganz überzeugt. Im Nachgang zeigte sich jedoch, dass Benjamin damit am Damenflügel festgelegt war und Rustemov auf dem Königsflügel praktisch gefahrlos zum Halali blasen konnte.
Die erste Spielstunde verbrachte ich allerdings nicht in kontemplativer Betrachtung eröffnungstheoretischer Finessen, sondern mit Diskussionen mit Bernard Verfürden über die Frage, wie man in Zukunft wohl am Besten die Öffentlichkeitsarbeit der Schachbundesliga strukturiert. Insoweit bekam ich erst spät mit, dass Andrei bereits dabei war, sein Zeitpolster fast in Gänze aufzubrauchen. Aber auch die anderen Partien waren erwartungsgemäß hart umkämpft.

Vielleicht lag es ja an den heraufziehenden Kopfschmerzen, doch ich hatte nachfolgend immer mehr den Eindruck, dass die Stellungen einem zähen Gewürge glichen. Überdies war mittlerweile auch der Zeitverbrauch anderer Teammitglieder außergewöhnlich hoch, was mir durchaus Sorgen machte. Kaum zeitigte die Aspirin, die ich mir eingeworfen hatte, Wirkung, löste sich auch der Knoten auf einigen Brettern. Die besten praktischen Chancen räumte ich dabei noch Robby ein, der Material für einen Königsangriff opferte. Auch Evgeny stand gut; er musste allerdings erst noch ein paar Löcher stopfen, die sein Gegner durch ein Läuferopfer auf dem Damenflügel gerissen hatte. Gleichwohl ergab sich bei objektiver Betrachtung ein insgesamt leichter Vorteil für den SV Wattenscheid, besonders weil Andre und erstmalig auch Ilja Probleme hatten. Sebastian verlor zu dieser Zeit irgendwie ebenso die Kontrolle.
Dann brach Christian ein, der für mich etwas überraschend in Nachteil geriet. (0-1).

Doch der Ausgleich von Evgeny, der einen mustergültigen Mattangriff zu Wege brachte, ließ nicht lang auf sich warten. (1-1). Insoweit war ich, was den ausgeglichenen Ausgang des Kampfes betraf, immer noch leicht optimistisch, da sich inzwischen auch Benny frei gespielt hatte und in ein hoffnungsvolles Damenendspiel mit zwei Mehrbauern überleitete. Dessen ungeachtet ergab sich eine erneute Führung für Wattenscheid, nachdem Ilja aufgeben musste. (1-2).

Somit gingen wir mit 5 Partien in die erste Zeitkontrolle. Die Bilanz war allerdings etwas ernüchternd: Vladimir stand gerade noch ausgeglichen. Hingegen arbeiteten Andrei und Sebastian noch immer an ihren Problemen. Leider hatte sich auch Robby auf dem Weg zum Matt verlaufen und kämpfte nun ebenfalls ums Überleben. Einziger wirklicher Lichtblick: Benny! Hier hatte sich inzwischen ein Freibauer nach vorne gemogelt. Der leicht erkältete Benjamin war es dann auch, der um 18.30 Uhr den Ausgleichtreffer landete. (2-2).
Erwartungsgemäß gingen dann aber die Partien von Andrei und Robby in den Ausguss. Da ging nichts mehr, auch wenn Sebastian praktisch aus dem Nichts einen Vorteil hervorzauberte. Großes Kino. (3-2, 3-3 und 3-4).

Nun spielte nur noch Vladimir. Der hatte jedoch inzwischen zwei Bauern weniger und musste sich in dem entstandenen Turmendspiel mehr als genau verteidigen, um überhaupt im Spiel zu bleiben. Nach kleinen Irritationen mit der Schachuhr in der zweiten Zeitkontrolle gelang unserem naturalisierten Belgier aber schließlich eine fast studienhafte Problemlösung. Er sicherte sich so zwar das Unentschieden, doch ich musste mich wohl oder übel mit dem leider Gottes insgesamt verdienten Verlust von zwei Mannschaftspunkten abfinden und Ulli Wolf gratulieren. (3,5:4,5).

SV Wattenscheid4,5 : 3,5SF Katernberg
Najer 1 : 0 Volokitin
Bartel 0 : 1 Romanov
Dragun ½ : ½ Chuchelov
Rustemov 0 : 1 Bok
Appel 0 : 1 Siebrecht
Handke 1 : 0 Zaragatski
Hirneise 1 : 0 Ris
Thiel 1 : 0 Dr. Scholz

Das amtliche Endergebnis tat trotzdem leidlich weh. Das an sich gute Abendessen wollte daher nur wenig munden. So ein herber Rückschlag muss erstmal verdaut werden. Außerdem war in Mülheim kaum ein genügend großer Tisch aufzutreiben. Bernd zog es daher vor, mit Andrei und Natalja wieder zurück nach Essen zu fahren, um dort zu speisen. War irgendwie schade, doch vermutlich die praktikabelste Option. Wie auch immer: Der Abend endete jedenfalls ohne große Sperenzchen um 22.30 Uhr, denn am nächsten Morgen wartete die Mülheimer Mannschaft, die bereits unseren Reisepartner vernascht hatten.

Am nächsten Morgen war ich früh auf den Beinen. Schließlich musste um 9.30 Uhr die Mannschaftsmeldung bei Fide-Schiedsrichter Uwe Hinrichs, der kurzfristig eingesprungen war, erfolgen. Mülheim blieb bei seiner elostarken Truppe:

SF KaternbergSV Mülheim-Nord
Volokitin Vachier-Lagrave
Romanov Landa
Chuchelov Fridman
Bok Berelowitsch
Siebrecht Hausrath
Zaragatski Feygin
Ris Levin
Dr. Scholz Saltaev

Hinrichs, dem ich am Vortage noch schnell ein Hotelzimmer in unserem Stammdomizil Friederike besorgt hatte, eröffnete die Begegnungen überpünktlich. Das nahmen sich die Herren Fridman und Chuchelov offenbar zum Vorbild. Sie beendeten ihre Partie mit einem etwas vorzeitigen Salonremis durch Zugwiederholung. (0,5-0,5). Freilich konnte ich auch in den übrigen Partien keine eröffnungstheoretischen Großtaten entdecken, so dass sich dadurch das Kräfteverhältnis eigentlich nicht zu unserem Nachteil veränderte. Ich spürte insofern keine Erschütterung der Macht.

Bemerkenswert war allerdings, dass die Mülheimer in allen Schwarzpartien praktisch zur gleichen Zeit einen Turm auf das Feld e8 zogen. Um aber gleich sämtlichen  Verschwörungstheorien entgegen zu wirken, muss angemerkt werden, dass unterschiedliche Systeme auf den Brettern standen. Gleichwohl war ich mit der allgemeinen Eröffnungsarbeit meines Teams ganz zufrieden. Die Jungs spielten locker auf, was mir viel besser gefiel, als das verkrampfte Geschiebe des Vortages. Außerdem registrierte ich eine gewisse Müdigkeit des Mülheimer Spitzenbrettes. Jedenfalls sah es kurz so aus, als wollte der junge Franzose tatsächlich am Brett einschlafen. Zumindest tippten nicht wenige Zuschauer darauf, dass Maxime nach ausführlichem Gähnen einige Züge im Nebel des Traumlandes analysierte. Aber auch hier funktioniert das Gehirn eines Supergroßmeisters offenbar völlig anders als zum Beispiel meine Denkfabrik. Denn wenn ich von Schach träume, sehe ich höchstens einen schwebenden Springer über meinem Bett. Gerne verarbeite ich im Schlaf auch schon mal irreale Verluststellungen. Keinesfalls bin ich aber in der Lage, narkotisiert irgendwelche Eröffnungsvarianten zu prüfen. Offensichtlich hat aber MVL diese Fähigkeit. Jedenfalls setzte er nachfolgend unseren Andre, der im Moment leider ein bisschen seiner Form hinterher läuft, gehörig unter Druck.

Trotzdem hatte ich wenig Sorgen. Summa summarum hatten wir nach anderthalb Stunden nämlich auf fast allen Brettern einen optischen Vorteil. Das positive Gefühl verstärkte sich, als sich auch Robby kurz nach meiner Mittagspause mit Grünkohl und Mettwurst ein ungefährdetes Remis mit den schwarzen Steinen sicherte. (1-1). Um 13.00 Uhr kam dann Christian zu mir und erklärte, dass er soeben ein Remisangebot seines Gegners abgelehnt habe. Vielleicht hätte er annehmen sollen, aber davon später mehr.

Nach einem weiteren Remis von Sebastian (1,5-1,5) richtete sich meine Aufmerksamkeit aber erstmal wieder auf das erste Brett. Andrei kämpfte inzwischen mit dem Rücken zur Wand. Er hatte kaum noch Zeit und sein Gegner begann mit einem gefährlichen Angriff. Nach höchst dramatischen Verwicklungen und sicher nicht ganz optimaler Verteidigung stand unser Spitzenspieler am Schluss in einem verlorenen Doppelturmendspiel. Ein klassischer Genickbruch.

Inzwischen remisierte auch Benjamin in ausgeglichener Stellung (2-2). Zu dieser Zeit gingen wir aber noch alle davon aus, dass sowohl Ilja als auch Evgeny ihre chancenreichen Positionen locker nach Hause bringen würden. Das war leichtsinnig und uns würde bald in Erinnerung gerufen werden, dass eine Partie erst dann gewonnen ist, wenn der gegnerische König zur Strecke gebracht wurde oder der Gegner aufgibt. Denn als sich Andrei ein wenig später ins Unvermeidliche fügte (2-3), musste ich zu meiner großen Bestürzung feststellen, dass sich inzwischen die Partie von Ilja zu unserem Nachteil verändert hatte. Zu allem Überfluss fand sich kurze Zeit danach außerdem Christian in Folge eines unglücklichen Turmtausches in einem tendenziell verlorenen Damenendspiel wieder. Schazzbat! Die dunkle Seite der Macht gewann von nun an die Oberhand. Als dann Evgeny nur noch ein Unentschieden schaffte (2,5-3,5), hatte Mülheim heimlich, still und leise den Kampf gedreht. Weil Christian später keine realen Chancen mehr hatte, willigte schließlich auch Ilja ins Remis ein (3-4).

Allerdings dauerte das Leiden noch eine geraume Weile. Jedenfalls war ich erst um 18.00 Uhr wieder am Niederrhein. Das Kampfresultat (3-5) und den damit verbundenen Frust spülte ich mit einer Flasche Rotwein runter. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass wir sauber austempiert wurden. Zumindest hatten wir die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

SF Katernberg3 : 5SV Mülheim-Nord
Volokitin 0 : 1 Vachier-Lagrave
Romanov ½ : ½ Landa
Chuchelov ½ : ½ Fridman
Bok ½ : ½ Berelowitsch
Siebrecht ½ : ½ Hausrath
Zaragatski ½ : ½ Feygin
Ris ½ : ½ Levin
Dr. Scholz 0 : 1 Saltaev

Sicher, die diesjährige Auslosung war nicht optimal, aber wenn wir jetzt nicht bald durchgreifend punkten, wird uns dieses Wochenende noch lange im Magen liegen.

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Die schlaue Göttin Caissa hat es wohl verstanden, den krassesten Fehlern das bezaubernde Gewand einer genialen Kombination zu verleihen.

Dr. Savielly Tartakower