Schach ist gelegentlich auch ein Brettspiel

Geschrieben am 07.10.2016 von Bruno Müller-Clostermann

SFK-Geschichte: Prof. Henningsen (1933-1983)

Zur Erinnerung an Prof. Dr. Jürgen Henningsen (verstorben am 14.10.1983) veröffentlichen wir aus seinem schachlichen Nachlass einen seiner Aufsätze, in dem er im „Katernberger Schachspiegel 1975“ sehr lebhaft eines seiner Schachabenteuer schildert.

Prof. Dr. Jürgen Henningsen, ein Schüler des legendären Fritz Sämisch, stieß 1966 zu den Katernbergern und war bis zu seinem allzu frühem Tode im Jahr 1983 eine den Verein prägende Persönlichkeit, die in Erzählungen und Anekdoten bis heute in hohen Ehren gehalten wird. Schach und alles was man spielen konnte war – so wird berichtet - seine zweite Leidenschaft. Die erste Stelle belegte seine Wissenschaft, die Pädagogik. Vielleicht war ihm seine Familie noch wichtiger, mit einem eigenen Sohn und drei adoptierten Kindern aus drei verschiedenen Erdteilen. Seine Vielseitigkeit war imposant, u.a. schrieb er Texte und führte Regie für das Münsteraner Kabarett „Fortschrott“, lernte Chinesisch und schrieb Gedichte, Chansons und Kriminalromane, ganz zu schweigen von der Fülle der von ihm verfassten wissenschaftlich-pädagogischen Publikationen. Aber „Schach war und ist die ewige Droge“ sagte er von sich selbst.

Schach ist gelegentlich auch ein Brettspiel

von Jürgen Henningsen

Gegen Solingen! Katernberger Kiebitze und Spieler sind gespannt bis zum Äußersten. Lockerungsübungen, Kaffeebestellungen. Sie kommen! Die Kanonen entern Hans Nockes Bergfort [das Katernberger Spiellokal], ich sehe sofort den Superstar, laufe zum Telephon und rufe meine Frau in Münster an: „Solingen spielt mit Westerinen!“  [im Bild rechts im Jahr 1973]

Ich kannte den kommenden Großmeister bestens: Ich hatte bei der ersten offenen Meisterschaft von Risskov/Dänemark die Partien des damals noch ganz jungen, aber superehrgeizigen Jungen aus nächster Nähe gesehen und bewundert. Die Mannschaftsaufstellungen sind fertig, ich sehe, was ich geahnt hatte. Ich laufe wieder zum Telefon und rufe noch einmal Münster an: „Ich kriege Westerinen!!!!“

Eine zähe Wühlpartie. Ausgangs der Eröffnung und im Mittelspiel habe ich minimale Vorteile, die sich langsam verflüchtigen. Ich fange an schlechter zu stehen, und muß clinchen. Plötzlich verkombiniert er sich, ich gewinne zwei Figuren gegen einen Turm, muß aber starke Vereinfachungen zulassen.

Vor dem Abbruch will ich nichts Entscheidendes unternehmen: die Hochachtung vor dem Gegner ist zu groß: Aber ich weiß, daß ich ihn „habe“.

Abgebrochen wird nach 50 Zügen in folgender Stellung: Weiß (Henningsen): Kh3; Lg5; Sd7; Be4, f3, g2, h4 (7). Schwarz (Westerinen): Kg7, Tf1; Be6, f7, g6, h5 (6).

 

Der Mannschaftskampf steht 3,5:3,5 – diese Hängepartie entscheidet. „Remis“ sagt Heikki Westerinen. „Gewonnen“, weiß ich. Auch der Abschätzer (vermutlich Dr. Ostermeyer) entschied auf Weiß-Sieg. Lange Analysen mit Freunden des SK Münster 32 beruhen auf der Idee, g4 zu ziehen, einen Freibauern zu bilden und vorzuziehen. Höchstwahrscheinlich gewonnen. In Katernberg wird dann aber eine viel giftigere Idee ausgekocht: der weiße König läuft in die schwarze Stellung hinein, zwei weiße Bauern werden einfach geopfert – totsicher gewonnen.

Die Fortsetzung der Hängepartie folgt exakt dem Katernberger Giftküchenrezept. Zuschauer in Mengen, aber meine Nerven sind noch erstklassig. [Die Nummerierung der Züge beginnt bei 1, d.h. gedanklich sind die Zugnummern um 50 zu erhöhen! Die Fortsetzung der Hängepartie fand im Hotel Böll in der Altenessener Straße 311 statt, wo 30-40 Zuschauer anwesend waren.]

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...der 89. Zug, ein Zug vor dem Abbruch, Westerinen Fallblättchen steht oben - da springt er auf: "Remis! Ich werrde Ke4 ziehen, drreimal selbe Stellung, rrremis!" Er lässt sein Blättchen fallen, man rekonstruiert ungläubig die Zugfolge, noch einmal, noch einmal, tatsächlich! Beim 83., beim 86. und beim 89. Zug ist, jedesmal mit Weiß am Zug, dasselbe Bild auf dem Brett!

Einmal entsteht dies Bild nach einem schwarzen Tg2 (worauf Weiß Kf8 zieht), einmal entsteht es nach einem schwarzen Ke4 (worauf Weiß Sd6+ zieht), einmal entsteht es gar nicht mehr auf dem Brett. Ich kippe total und plötzlich aus den Latschen: erstens habe ich diese komplizierten Wiederholungen schlicht übersehen, zweitens habe ich meinem Gegner ein so sagenhaftes Gedächtnis nicht zugetraut und vor allem habe ich nicht damit gerechnet, daß dieser in Zeitnot die Nerven für eine Stellungswiederholungsreklamation aufbringen würde. Ich schleiche zum Telephon und rufe in Münster meine Frau an: alles aus!

Die Mannschaftskameraden, die vorher so glänzende Analysearbeit geleistet hatten, sind enttäuscht, aber auch ungerecht. Die Stellung ist nämlich, was hinterher zwar von vielen erbittert bestritten wurde, immer noch leicht gewonnen für Weiß: es ist völlig gleichgültig, wo der schwarze König steht, da er in jedem Fall auf e5 nehmen muß und eine Variante aus der Anmerkung zum 72./83. Zug entsteht. Man sehe etwa folgende Fortsetzung von der Schlussstellung aus:

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Mein Idol Friedrich Sämisch zitierte stets das (vermutlich von Walbrodt stammende) Wort: Jeder geht an sich selbst zugrunde!

Mehr Schachgeschichte[n]

Warum Schach ein Glücksspiel ist und warum es Schachvereine geben muss, kann in diesen amüsant geschriebenen Aufsätzen von Prof. Henningsen nachgelesen werden.

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